Interview mit Anne Schadde
Was hat es mit der neuen Technik von Rajan Sankaran auf sich? Der neue Weg, den Sankaran heute aufzeigt, ist das schrittweise Vorangehen in der Anamnese, da anhand der verschiedenen Ebenen der Erkrankung* der Weg bedeutend klarer geworden ist, den wir gehen können. Wir können heute besser erkennen, auf welcher Ebene die Verschreibung erfolgen sollte. Es handelt sich aber nicht nur um eine „Technik“, Rajan Sankaran hat die Homöopathie bereichert durch sein fortwährendes kreatives Weiterentwickeln seiner Ideen. Er bleibt nicht stehen, sondern geht nach Hahnemanns Vorbild konstant weiter in der eigenen Entwicklung und der Entwicklung der Homöopathie. Denn nach wie vor ist es in jedem einzelnen Fall wichtig, herauszufinden: was ist das zu Heilende im Patienten. Und nichts anderes als dieses zeigt uns Sankaran mit dem was er uns lehrt: „vorurteilslos“ die Schilderungen des Patienten zu hören und seine Beschwerden in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. (er sagt heute von „lokal“ zu „global“). Das ist das eigentliche Kunstwerk. Denn Homöopathie ist eine HeilKUNST, wie im Organon immer wieder erwähnt. Daher kann es nicht eine Regel geben, sondern wir brauchen ein gutes Handwerkzeug und die Fähigkeit, mit dem was der Patient erzählt, wertfrei umzugehen. Was bedeutet es für Dich „einfühlsam zu leiten“? Einfühlsam bedeutet für mich, immer nah am Patienten zu sein. Die Fragen so zu stellen, dass der Patient die Freiheit bekommt, sich zu öffnen. Müssen wir denn unseren Patienten leiten? Ist es nicht vielmehr so, dass wir unseren Patienten möglichst wenig fragen sollten, damit er sich uns gleichsam ungefiltert präsentiert? Nun leiten bedeutet nicht, dass wir die Führung übernehmen, sondern dass wir immerzu weiterfragen, um möglichst nah an das heranzukommen, was Sankaran mit „vital sensation“ = „zentrale Empfindung“ bezeichnet. Das heisst, der Patient beschreibt das, was er empfindet. Dazu ist es wichtig, den Patienten an seinen eigenen Worten weiter zu führen und auch immer wieder zurückzubringen. Denn sonst verlieren sich gerade die Patientin in der westlichen Welt, vor allem in Großstädten wie München, wo ein Überangebot an Psychotherapie oder Familienstellen etc. existiert, in intellektuellen oder psychologischen Erklärungen. Wie äußert sich der Prozess, den ein tief wirksames Heilmittel auslösen könnte? Es werden nicht wirklich Prozesse ausgelöst, sondern der Patient kommt zu sich selbst. Nietzsche hat das einmal formuliert mit: „Jetzt erst weiss ich Dich genesen, denn gesund ist, der vergaß.“ Daher erscheint meist nichts spektakuläres und trotzdem ist alles anders als vorher. Die Beschwerden hören auf, der Patient fällt in eine innere Ruhe. Das sind Geschenke in der Behandlungszeit, die wichtige Spuren sowohl beim Patienten als auch bei mir hinterlassen. Denn ich bin immer wieder beeindruckt, was danach einem Simillimum ist. Ich werde auf dem Seminar eine Patientin zeigen, die schon seit langer Zeit auch vor mir in homöopathischer Behandlung war und bei mir 10 Jahre lang verschiedene Mittel bekam, bis zu einem Punkt, wo wir nicht mehr weiter wussten. Die weiterführende Anamnese brachte sie an den zentralen Punkt ihrer inneren Empfindungen und dem dazu passenden Mittel. Die Veränderungen, die sich nach diesem Mittel ergaben, ermöglichten ihr nun Zugang zu dem Teil zu finden, den sie in den Dienst ihrer eigenen spirituellen Entwicklung stellen kann. Das ist genau, das was Hahnemann in § 9 des Organon beschreibt, wenn ein Patient wirkliche Heilung erfährt. Das spannende daran ist, dass das dann nicht spektakulär und euphorisch ist, sondern in seiner Einfachheit die Tiefe der Bewegung der Seele darstellt. Was meinst Du mit der „Bewegung“ der Seele hinter oder in der Krankheit? Und wie findest Du, wird sie sichtbar oder sogar verstehbar? Die Seele ist kein statischer Prozess, noch ist sie eine Substanz, sondern sie ist die lebendige Bewegung in uns, die sich in der Krankheit äußert. Eigentlich möchte ich sagen „leider“, denn wenn die Seele die Prozesse in sich selbst verarbeiten könnte, d.h. bewusst werden, wäre nicht der Körper als Ausdrucksorgan vonnöten. Der Körper an sich ist zu keiner Bewegung fähig ohne das Lebendige des seelischen Prozesses (wie Hahnemann sagt in § 9 „in Gefühlen und Tätigkeiten“), daher kann uns der körperliche Ausdruck die Möglichkeit geben, die Bewegungen der Seele zu erkennen, z.B. findet man oft das „eingeengte“ Gefühl im Brustraum bei Asthma auch wieder auf der seelischen Ebene des Patienten. Die Frage ist nur, wie übersetze ich in der Homöopathie genau diese Empfindungen. Denn die sind die „Dynamis“ im Körper. Die organische Veränderung an sich ist erst das letzte Glied in der Kette der „Dynamik“, d.h. in der Bewegung, und damit geben sie uns direkten Zugang zur Dynamis. Alles das hat Hahnemann im Organon ja explizit erklärt. Worin wir trotz der vielen unterschiedlichen Ansätze in der Homöopathie überstimmen ist doch: homöopathisch aufbereitete Mittel sind nur geistartige Substanzen, also gilt es auch, das was im Menschen geistartig erkrankt ist, herauszufinden, denn nur so handeln wir im Sinne von Similia similibus curentur. Der körperliche Ausdruck ist nur der nach aussen sichtbare Teil der inneren Dynamik. Nun und jetzt geht es darum, dieser Bewegung des Patienten zu folgen, von der Erkrankung hin zur Energie der Erkrankung. Das ist das was Sankaran mit der Bewegung auf den verschiedenen Ebenen, von der Erkrankung mit Modalität hin zur Emotion und über die Wahnidee (d.h. die Vorstellung jenseits der Realität) bis hin zu Ebene der generellen Empfindungen, die dadurch – so wie Sankaran sagt – den „anderen Song“, das andere Lied, im Patienten tönen lässt, der „non-human-specific“, der nicht wirklich typisch menschlich, ist. Denn unsere Mittel sind (bis auf Nosoden und Sarkoden) geistige Entitäten von Substanzen jenseits des Menschen, daher muss der Rhythmus der verstimmten Lebenskraft jenseits des typisch menschlichen sein (ansonsten behandeln wir nicht nach dem Grundsatz „ähnliches möge durch ähnliches geheilt werden“). Anders ausgedrückt: Weil die verstimmte Lebenskraft Muster zeigt, die jenseits des menschlichen Rhythmus liegen, könnten geistige Entitäten von Substanzen jenseits des Menschen ein Heilmittel sein. Und die Kunst besteht nun darin, dieses innere Lied aufzuspüren, wahrzunehmen UND umzusetzen, was wohl das größte Kunstwerk ist. Was ist für Dich das „Unbewusste“?, laut Freud ist ja das UBW nun etwas, das nicht nach oben driftet oder eben nur zu sehr seltenen Gelegenheiten. Ja genau, auf diesen Augenblick muss man warten und im Grunde genommen drängt ja in jedem Satz, den ein Mensch spricht, das Unbewusste nach oben, auch wenn es noch so sehr vom Verstand kontrolliert werden will. C.G. Jung hat mal so schön gesagt: das Bewusste ist der kleine Korken auf dem großen Ozean des Unbewussten, der sagt: ‚ich habe alles fest im Griff‘. Als ich vor einigen Jahren Edward Whitmont am Ende seines Lebens homöopathisch begleiten durfte, haben wir viel über diese Dinge gesprochen. Denn Jung, den Whitmont persönlich kennengelernt hatte, war überhaupt kein Freund der Homöopathie. Im Gegenteil war er eher abgeneigt, überhaupt der Homöopathie zu lauschen. Er verstand gar nicht, dass es nicht die Arbeit des Patienten sein muss, gesund zu werden. Er verstand nicht wieso wir Homöopathen die Vermessenheit besitzen, zu glauben, solche Prozesse abkürzen zu wollen. Denn jede Erkrankung ist nur der Ausdruck der Dynamik des Inneren. Die über 20 Jahre meiner eigenen Praxistätigkeit haben mich natürlich gelehrt, dass nicht viel in unserer Macht liegt. Und dennoch habe ich in einigen wenigen Fällen die Quantensprünge gesehen, die Patienten gehen können. Dies war aber meistens nur nach dem Mittel möglich, das tief aus dem Innern herausgearbeitet wurde. Nun sind wir heute der Vorstellung C.G. Jungs viel näher, denn mit der neuen Anamneseführung ist es sehr anstrengend geworden für den Patienten, sich selbst so weit zu bringen, an die Pforte seines Unbewussten zu stoßen und es ist nicht mehr unsere konstante Gedankenarbeit. Aber ich bin ganz realistisch, es ist nicht machbar, es ist ein Geschenk der Erkenntnis und der Gnade, die unmittelbar gegeben wird und manchmal dauert es Jahre bis dies geschieht. Aber die neuesten Ideen Sankaran lassen geben uns mehr Raum für neue Entdeckungen, geben die Möglichkeit, den Patienten zu begleiten auf seinem Weg der Entdeckung des „unbezweifelt Krankhaften“. Was nimmt Dich so ein für die neue Technik von Rajan Sankaran? In den ersten Jahren meiner Praxis durfte ich immer wieder diese unglaublichen Veränderungen nach homöopathischen Mitteln wahrnehmen, aber gleichzeitig gab es aber genug andere Erfahrung, wo sich nichts tut beim Patienten, die Mittel nicht helfen, es nicht wirklich weitergeht und da gebe ich nicht gerne auf. So brauche ich nie zu sagen: „ich kann Ihnen nicht mehr weiterhelfen, denn unser Repertorium, die Materia Medica zeigt nichts mehr was für Sie infrage kommt“. Denn ich suche das Heilmittel nicht bei mir und dem was ich weiss, sondern beim Patienten und in seiner Lebenskraft. Das Schöne an dieser Technik ist, dass ich in jedem Moment der Anamnese genau beobachten kann, wo ich mich befinde. Es ist ausgesprochen hilfreich, zu wissen, auf welcher Ebene der Patient gerade berichtet, denn das hilft, weiterzugehen. Und vor allem hilft es, nicht zu früh aufzuhören, zu fragen. Sondern immer weiterzugehen, um das „Unbezweifelt Krankhafte“ herauszuschälen. Kann man es so verstehen, dass Du unmittelbar nach der Methode von R. Sankaran arbeitest oder gibt es Unterschiede und worin liegen die Unterschiede? Niemand kann und soll den anderen kopieren und das ist auch nicht das Ziel einer HeilKUNST, dass ein Guru alles vormacht und alle machen es nach. Ich bin eigentlich überhaupt kein Freund der Kopie, aber das was Sankaran zeigt hat nur mit dem Handwerkszeug zu tun, und das ist das Basiswerkzeug für jeden Künstler. Diese „Methode“ ermöglicht so viel Freiheit für den einzelnen Therapeuten, aber das ist gerade das Problem für diejenigen, die lieber „Rezepte“ haben statt sich auf die Weite des Möglichen einzulassen. So zu arbeiten erfordert, loszulassen von dem was ich alles weiss, zuzulassen, dass etwas geschieht, was ich mir vorher nicht habe ausdenken können und zu warten auf diesen Augenblick. Seit wann hat die neue Methode von Rajan Sankaran in Deiner Arbeit ihren Platz gefunden? Nun ich habe Sankaran in den 80er Jahren kennengelernt. Was mich immer zu ihm hat stehen lassen ist seine bedingungslose Suche. Er ist jemand, der sich jeden Tag weiterentwickelt. Und dieses evolutionäre Prinzip ist mir und meiner Natur sehr nahe. Es wäre für mich schlimm, wenn ich nicht mehr weitergehen könnte und so bin ich eigentlich mit Sankaran permanent weitergegangen. Seit 1993 organisiere ich mit Dr. Jürgen Hansel hier in München jährlich Seminare mit Sankaran. Und damit hat mich das natürlich geprägt. Aber was ganz wichtig ist: NICHT DIE METHODE sondern die FÄHIGKEIT ZUR BEWEGUNG hat in meiner Arbeit einen wichtigen Platz und damit ist mir Sankaran am nächsten. Gibt es für Dich noch andere Methoden der Anamneseführung mit denen es gelingt „Einsicht“ in den Patienten zu gewinnen? Es gibt eigentlich gar keine Methoden sondern jede Anamnese ist ein Einzelkunstwerk: „…diese individualisierende Untersuchung“ § 83, sagt Hahnemann. Die Aufforderung des Organon beginnend bei § 1 Des Arztes höchster und einziger Beruf…. schließt die Bewegung bei § 3 ab mit dem „ächten Heilkünstler“. Wenn wir schon von Methode reden, dann ist es nur die Frage: wie werde ich Künstler. Dazu brauche ich natürlich ein gutes Handwerkszeug und das ist das, was wir über die vielen Jahre von vielen Homöopathen der alten und neuen Zeit gelernt haben. Und ich bin für jeden Anstoß, jede Erkenntnis der alten und neuen Meister dankbar und integriere sie. Aber die wirkliche Kunst ist etwas, was im Innen geschehen muss. Es ist jetzt die große Kunst, das alte Wissen parat zu haben, aber sich dem Neuen, Unbekannten zu öffnen. So wie beim Salto mortale im Zirkuszelt. Die alte Schaukel haben wir verlassen, sie hat gut geholfen und die neue Schaukel ist greifbar nahe, aber die wichtigste Bewegung liegt im Salto mortale. Das heisst übersetzt: möglichst von allen Fixierungen loslassen und sich öffnen dem großen Potential der „Möglichkeiten“, in die uns der Patient mitnimmt. Anne, wir kennen Dich seit über 20 Jahren aus der homöopathischen Arbeit, gibt es ein bestimmtes Erlebnis, welches Dich zur Homöopathie geführt hat? Ja, ich war Lehrerin in einer Schule und die Schüler haben mir in den Pausen immer ihre wichtigsten Probleme anvertraut. Dadurch erkannte ich im Laufe der Zeit, dass die Pausen wichtiger waren für die Entwicklung des jungen Menschen als der Unterricht selbst. Also habe ich die „Pausen“ jetzt zu meinem Beruf gewählt. Und gerade dieser Prozess der Veränderung der Anamnese bringt immer wieder die Möglichkeit, in den „Pausen“ das Wirkliche, das Dynamische zu verstehen. Wir danken Dir sehr für dieses Interview und freuen uns sehr auf ein spannendes Seminar! * 1. Ebene: Name der Erkrankung |